Muttergebundene Kälberaufzucht
Die Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Haltungsform werden laufend erweitert. Beim Bio-Stammtisch Vorarlberg am 29. April 2024 berichteten Betriebe von ihren Praxiserfahrungen. Die Vorarlberger Tierschutzombudsfrau Karin Keckeis ergänzte mit Fachinformationen.
Fachinformationen
zusammengefasst von Dr. med. vet. Karin Keckeis
Bei der Muttergebundenen Kälberaufzucht wachsen die Kälber bei Ihren Müttern auf, sie ist somit die tierfreundlichste Haltungsform innerhalb der Milchproduktion, wobei die Kühe, die ihre eigenen Kälber pflegen und säugen dürfen, zusätzlich auch gemolken werden. (Bei der ammengebundenen Kälberaufzucht säugt eine Kuh zusätzlich zu ihrem eigenen Kalb meist mehrere Kälber gleichzeitig, die Mütter der Ammenkälber können somit vollumfänglich gemolken werden). Durch den geringeren Milchertrag und den höheren Platzbedarf verursacht die Muttergebundene Kälberaufzucht höhere Kosten pro kg Milch. Diese müssen mit einem höheren Milchpreis abgegolten werden. In Untersuchungen wurden diese mit +30 % zum bestehenden Abnehmerpreis beziffert. Die Nachfrage nach Milch und Milchprodukten aus der Muttergebundenen Kälberaufzucht steigt und Konsumenten zahlen und sind bereit den Mehrpreis zu bezahlen. Dies wird auch von Initiativen aus der Praxis und durch Labelprogramme bestätigt. Die Konsumentenperspektive wird von der Forschung positiv beurteilt, insbesondere wenn der Konsument informiert ist über die übliche Maßnahme der Kuh-Kalb-Trennung in der Milcherzeugung. Aus einer Reihe von Studien der letzten 15-20 Jahre aus unterschiedlichen Ländern geht hervor, dass bis zu 2 Drittel der Befragten nicht um die frühe Kuh-Kalb-Trennung weiß und diese Praxis ablehnen sobald sie aufgeklärt sind [1][2][3][4][5][6]. Konventionelle Systeme werden negativ wahrgenommen oder abgelehnt. Gleichzeitig wird aus Studien auch eine steigende Nachfrage abgeleitet nach Milch und Fleisch aus Betrieben, die das konventionelle Management vermeiden.
- Placzek et al. 2020[5]: Überblick über Studien zur öffentlichen Einstellung über frühe Kuh-Kalb-Trennung und andere Praktiken in der Milchproduktion.
- Sirovica et al. 2022[6]: Akzeptanz und Wahrnehmung deutlich positiver für Praktiken ohne Trennung von der Mutter. Wissen um die Bedeutung des Mutter–Kalb–Kontakts für das Wohlbefinden weist auf niedrige Akzeptanz für Systeme mit früher Trennung hin.
- Boaitey A. et al. 2022[7]:Untersuchung der Konsumentenpräferenzen für Haltungsformen mit Mutter–Kalb–Kontakt und der Rolle verschiedener Informationsformate und unterschiedlicher Konsumentensegmente. Ergebnisse heben die Notwendigkeit von Nachfrageanreizen für die Erzeugung von Nischenmärkten für Kuh–Kalb–Management Praktiken hervor.
Labelproduktionen & Initiativen aus der Praxis:
- Schweiz: Verein Cowpassion
www.cowpassion.ch
ca. 700 Anfragen (seit Vereinsgründung 2018) von Kunden, die schon Käse bestellen und unbedingt auch Milch möchten.
Erste MUKA-Käserei (AG) geht 2024 in Produktion (Crowdfunding) - Deutschland:
De Öko Melkburen GmbH
www.deoekomelkburen.de,
4 Jahreszeiten Milch;
Zeit zu zweit für Kuh und Kalb
www.kuhpluskalb.de - Großbritannien:
The Ethical Dairy
www.theethicaldairy.co.uk/ - Neuseeland: Happy Cow Milk
- Niederlande: Kalverliefde
- Australien: How Now Dairy
Informationen / Merkblätter:
- Fachstelle MUKA: www.mu-ka.ch
- Thünen-Institut: Themenfeld Kuhgebundene Kälber-Aufzucht
Praxisbericht
zusammengefasst von BIO AUSTRIA Berater Florian Vinzenz
Kurt Stark aus Fontanella (Vorstand BIO Vorarlberg, Bio Wießfläckahof) betreibt die muttergebundene
Kälberaufzucht seit 2019:
„Jeder Betrieb ist anders und muss den für ihn passenden Ablauf
finden.“ Entscheidend dabei ist die Bausubstanz und wie es finanziellund arbeitstechnisch machbar bleibt. Die Arbeit wird nichtweniger, aber zu Kurts Freude erhöht sich der Anteil der Tierbeobachtung und Betreuung. Finanziell müssen die Mehrkosten der Aufzucht über das Fleisch oder die Milch generiert werden. Familie Stark setzt auf Milchverarbeitung und Direktvermarktung, was eine Mehrarbeit und Investitionen bedeutet. Höheres Tierwohl ist leider (noch) nicht wirtschaftlich zu betreiben. Einige Herausforderungen hat er noch nicht gelöst: Die Kälber trinken deutlich mehr Milch. Bei extensiven Rassen wie seinem Original Braunvieh bis zu 50% der Milch. Wird der Laufstall der Kühe nicht angepasst, werden die Liegeboxen auch von den Kälbern genützt und so können nicht alle Tiere gleichzeitig liegen – der Stall wird zu klein. Es kam auch zu Zellzahlproblemen. Laut Tierarzt spielt hierbei die unregelmäßige Milchabgabe eine Rolle. Kurt versuchte daraufhin verschiedene Möglichkeiten: Die Kälber durften nach dem Morgenmelken den halben Tag zur Mutter. Manche Kühe behalten Milch für das Kalb zurück, andere sind leer gemolken und das Kalb trinkt erst nach ca. 14 Stunden. Der Betrieb hat aufgrund der Alpung eine saisonale Abkalbung. Deshalb ist es selbst bei großzügiger Bauweise herausfordernd, den Tieren im Spätwinter ausreichend Platz zu bieten. Darum wurde erneut umgestellt. Nun ist der Kälberbereich und eine Außenliegefläche aus Vollstroh (Tiefstreu). Die Kühe warten bereits am Gatter und werden zur Melkzeit zu den Kälbern gelassen. Nach dem Trinken gehen die Kühe gerne in den Laufstall zurück. Bei diesem System mit Müttern und Ammen trinken zwei Kälber an derselben Kuh. Im Melkstand wird 1x täglich kontrolliert, ob es Probleme am Euter gibt. Jede Kuh ist anders: Manchen ist es egal, ob sie gemolken werden oder das Kalb trinkt. Andere haben einen starken Mutterinstinkt oder lassen fremde Kälber ungern säugen. Hier bleiben Kälber bis zum Abtränken (ca. 4 Monate) bei der Mutter / Amme. In Folge sind sie deutlich gesünder und die Jugendentwicklung ist rascher. Um muttergebundene Aufzucht interessant zu machen, braucht es finanzielle Anreize. Optimal wäre eine Molkerei, die eine eigene Marke (Vorzugsmilch, Käse, …) für diese Haltungsform einführt.
Kaspar Kohler (Obmann bio Vorarlberg, Felsenhof) hat auf seinem Betrieb 2007 die Kraftfuttergabe beendet und sieht Vor- und Nachteile bei der Muttergebundenen Kälberaufzucht:
Die Mütter haben die Kälberaufzucht besser im Griff, als wir Menschen. Sie nehmen sich und kümmern sich gut um die Kälber. Das ist vorteilhaft für das Nachgeburtsverhalten. Das Kalb bekommt eine optimal temperierte Milch. Auf dem Felsenhof werden seit über 15 Jahren verschiedene Varianten ausprobiert – mit gleichen Herausforderungen wie auf anderen Betrieben. Durch die ganzjährige Abkalbung lernen die Kälber viel von den Kühen, wenn sie mit auf die Weide dürfen. Die Trennung nach dem Abtränken ist für sie oft schmerzlich. Damit die Kuh beim Melken die Milch ohne Probleme hergibt, muss die kurzfristige Trennung vom Kalb automatisch – z.B. durch Futtervorlage – ablaufen. Viele Konsument:innen verstehen nicht, dass die Kälber von den Müttern getrennt werden. Sie müssen aber auch nicht die Tierbetreuung am Betrieb durchführen und finanziell über die Runden kommen. Trotz Tierwohl und Wunsch der Konsument:innen greift die Mehrheit zum kostengünstigeren Produkt. Die Frage, wer die Preisdifferenz ausgleicht, bleibt offen. Möglich wären höhere gesetzliche Anforderungen oder finanzielle Anreize für die Tierhalter. Für die Zukunft machen zahlreiche Projekte Hoffnung, die im Kleinen bereits funktionieren.
Weiterführende Literatur
[1] Boogaard et al. 2008. Defining sustainability as a socio-cultural concept. Citizen panels visiting dairy farms in the Netherlands.
https://doi.org/10.1016/j.livsci.2007.11.004
[2] Ventura et al., 2013. Views on contentious practices in dairy farming. The case of early-cow-calf separation.
https://doi.org/10.3168/jds.2012-6040
[3] Hötzel et al. 2017. Citizens´ views on the practice of zero-grazing and cow-calf separation in the dairy industry. Does providing information increase acceptability?
https://doi.org/10.3168/jds.2016-11933
[4] Busch et al. 2017.American and German attitudes towards cow-calf separation on dairy farms.
https://doi.org/10.1371/journal.pone.0174013
[5] Placzek et al. 2020. Public attitude towards cow-calf separation and other common practices of calf rearing in dairy farming – a review.
https://doi.org/10.1007/s13165-020-00321-3
[6] Sirovica et al. 2022. Public attitude toward and perceptions of dairy cattle welfare in cow-calf management systems differing in type of social and maternal contact.
https://doi.org/10.3168/jds.2021-21344
[7] Boaitey A. et al. 2022. The value of additional calf-mother contact in milk choice: an analysis of US consumers. Renewable Agriculture and Food Systems 37, 683-694. https://doi.org/10.1017/S1742170522000333